Menschen (de)montieren? Deutungshoheit im Dokumentarfilmschnitt

Vorschaubild © Sandra Brandl und Gesa Marten | Veranstaltungsbild © Sandra Brandl und Gesa Marten

Menschen (de)montieren? Deutungshoheit im Dokumentarfilmschnitt

Edimotion Festival

Wer beim Schnitt das letzte Wort hat, ist auch eine Frage von Macht - nicht umsonst gibt es oft Jahrzehnte nach Filmstart veröffentlichte Directors Cuts, die produzentische Perspektiven korrigieren, eine andere Botschaft vermitteln wollen. In besonderem Fall relevant wird die Frage nach der gestaltenden Deutungshoheit im Schnitt allerdings beim Dokumentarfilm: Dort, wo es darum geht, Menschen zu montieren oder eben auch zu demontieren. Das kann mit Blick auf das Publikum geschehen, etwa um eine komödiantische Tonalität zu stärken, das kann mit Blick auf das gezielte Entlarven antagonistisch gesehener Menschen oder Ideologien geschehen, das kann en passant und unbewusst oder aus einer klaren Haltung heraus passieren. Dass die der Montage innewohnende Macht mit großer Verantwortung einhergeht, steht außer Frage Dass diese Macht auch willentlich geteilt werden kann, rückt erst in den letzten Jahren ins Zentrum von Aufmerksamkeit und dokumentarischer Debatte. Aber ist das sinnvoll und wenn ja in welchen Fällen? 

Das Ringen um Deutungshoheit und Wertung im Schnitt ist vielgestaltig und oft zäh: Mit der Regie, bemüht um Schutz der Protagonist*innen vor sich selbst oder dem kritischen Blick des Publikums. Mit editorischen Partner*innen im gemeinsamen Schnittprozess. Mit sich selbst angesichts der bisweilen unangenehm konkreten Frage „Montierst Du noch, oder diskreditierst Du schon?“ Und in Modellen der partizipativen Zusammenarbeit mit Protagonist*innen vielleicht auch angesichts der Frage, ob hier nicht längst jemand anders die Deutungshoheit übernommen hat und nun sein eigenes Bild von sich gestaltet. Und wie problematisch ist das vor allem bei dokumentarisch porträtierten Personen, deren Beruf mit Meinungsbildung zusammenhängt, bei Politikern und Politikerinnen?

Der von Gesa Marten und Sebastian Winkels montierte Film über die AfD Eine deutsche Partei wurde kontrovers diskutiert: Wird zu wenig gewertet, sind die Protagonist*innen „zu sympathisch“? Oder liegt genau in der beobachtenden Cinéma-Vérité-Haltung die Stärke des Films? Und wertet die Montage hier tatsächlich nicht? 

Ein anderer Fall ist die kirgisische Politikerin Erkingül Imankodjoeva, eine der Protagonistinnen des von Sandra Brandl montierten Films Flowers of Freedom: Gemäß der Grundsätze von Topos Film, unter dessen Label sich Sandra Brandl und Mirjam Leuze zusammen getan haben, wurde hier - auch aus der Gefahr heraus, die der Film für die Politikerin Imankodjoeva mit sich brachte - nach dem Prinzip einer möglichst transparenten und partizipativen Zusammenarbeit kooperiert. Bringt dieses Modell tatsächlich den positiven Wandel im Ausgleich von Machtgefällen in der Montage, oder schränkt das Mitspracherecht der Gefilmten nicht nur die kreative Freiheit, sondern auch die Deutungsmacht der Filmschaffenden zu stark ein? Und wie sehr beeinflusst die Frage nach der Position der Regie auch im On des Films die Aspekte von individueller erzählerischer Macht oder beobachtender Objektivität als Leitbild?

Zur Auslotung dieser Spannungsfelder werden die erwähnten und andere von beiden Panelgästen montierte Dokumentarfilme diskutiert: etwa der dank kommentierender Voice Over in komödiantischer Tonalität erzählende Durchfahrtsland oder das Politikerinnenporträt Die Unbeugsamen. Mittels verschiedener Ausschnitte werden Einblicke in Varianten des bewussten Teilens oder (verantwortungs)bewussten Nutzens der „Macht der Montage“ gegeben.

Gesa Marten arbeitet seit 1991 als freie Editorin und Dramaturgin und hat seitdem an über 60 Produktionen mitgewirkt. Der Fokus ihrer Arbeit liegt auf der Montage von Kinodokumentarfilmen, für die sie u.a. mit dem Bild-Kunst Schnitt Preis Dokumentarfilm (2005 für Was lebst Du? und für 2009 Perestoika - Umbau einer Wohnung) und dem Grimme Preis (2016 für Vom Ordnen der Dinge) ausgezeichnet wurde. Seit 2014 ist sie Professorin für Künstlerische Montage / Spiel- und Dokumentarfilm an der Filmuniversität Babelsberg.

Sandra Brandl arbeitet seit 1994 als freie Editorin im Bereich Dokumentar- und Spielfilm. Sie hat drei Kinder und lebt in Köln. Der von ihr montierte Dokumentarfilm Die Unbeugsamen war mit 180.000 Zuschauern der erfolgreichste Arthouse Film 2021. Zu ihren weiteren Arbeiten gehören u.a. Hyperland, Flowers of Freedom und The Whale and The Raven. Sie ist Mitglied der Deutschen Filmakademie.

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